Schloß Neuenbürg
09.04 – 03.07.2011
Dr. Ulrike Rein, Pforzheim
Unter dem Dach des Schlosses Neuenbürg hat Sibylle Burrer ein Netz gespannt. Es ist begehbar. Man erreicht es durch das Treppenhaus nach einem an räumlichen Eindrücken bereits vielgestaltigen Weg, der schließlich zum Dachstuhl führt und dort auf eine Stufenleiter, von der aus in das Netz einzusteigen ist. „Betreten auf eigene Gefahr“, wobei zu betonen ist: Der TÜV hat das Netz auf Haltbarkeit und Tragfähigkeit geprüft und genehmigt. Vier Menschen dürfen sich gleichzeitig darin befinden, sich bewegen und bewegen lassen.
Gleich der erste Schritt ins Netz fordert einen gewissen Wagemut, indem zuerst der Fuß die solide Tragkraft der festgefügten Treppenstufe verläßt und sich, gleich darauf auch sein Gewicht, der nachgiebigen Tragfähigkeit des Netzes anvertraut. Um einen Schritt weiter zu kommen, verlagert sich das Gewicht des ganzen Körpers ins Netz hinein und das nun freie zweite Bein kann sich vorarbeiten. Das erweist sich unter anderem als eine Frage des Gleichgewichts. Es gerät ins Wanken, und um sich aufrecht zu halten erweisen sich Hände und Arme als nützlich. Der ganze Mensch ist hier gefordert mit allen Gliedmaßen und dem Körperbewußtsein, was hier keine distanzierte Reflection meint, sondern unmittelbares Agieren und Reagieren in wachsamer Präsenz besonders dann, wenn sich noch andere im Netz befinden. Der Alleingang wandelt sich zu einem stets nach Ausgleich suchenden Bewegungsspiel, wenn man so will zu einem best möglichen Miteinander.
Die Akteure im Netz dürften so vom momentanen Ablauf des Geschehens in Anspruch genommen sein, daß sie wenig Sinn für „Umgebung“ haben. Allenfalls wird einmal, bei weiterem Vordringen, der Blick nach unten fallen. An der höchsten Stelle, von der aus es dann wieder abwärts geht, ist man schließlich 6 Meter über dem Boden des Dachstuhls. Auf eine Raumgrenze also fiele der Blick, vielleicht auch noch auf andere, das Dach selbst z.B. mit seiner Decke aus Ziegeln, natürlich auch auf den einen oder anderen anzustrebenden Balken mit dem festen Halt, den er als Zwischenstation verspricht. Gesehen werden also lauter Körper, nicht aber, so scheint es, der Raum. Der wird dafür erlebt.
Sibylle Burrer hat ihre Arbeit INTERVENTION IM RAUM genannt. Sie ruft schon im Titel auf, was die Begegnung mit dem Raum ausmacht: Hineinzugehen, sich darin zu bewegen, sogar sich in ihn einzumischen und dies mit dem ganzen Körper. Das gilt natürlich, so könnte man meinen, für jeden Raum, wobei wir uns allerdings als bewegliche Körper normalerweise nicht wirklich im Raum, sondern immer nur an dessen Rändern entlang bewegen. Wir gehen über den Boden, streifen an der Wand entlang, richten uns aus von einer Stütze zur anderen. Die Tiefe aber des Raums, seine lichte Weite und Höhe durchmißt nur der körperlose Blick. Wir sind keine Vögel. Sie durchqueren den Raum ganz und gar, sind in ihm und von ihm ganz und gar umgeben. Vögel fliegen. Wir Menschen gehen auf zwei Beinen. Wenn wir mit der uns eigenen Art, uns zu bewegen, Raum (und zwar nicht nur dessen Grenzen) erfahren wollen, brauchen wir dazu ein Hilfsmittel, vielleicht das eines anderen mehrbeinigen Wesens, das mittels lang gespannter Fäden den Raum durchquert. Ich denke an das Netz der Spinne.
Spinnennetze mit ihren zähen Fäden überspannen oft erstaunliche Weiten und durchmessen fast körperlos ganze Räume, erfassen aber meist nur zwei Dimensionen. Dagegen hat der Raum deren drei – wie die Körper. Wie die Körper umfaßt das Netz von Sibylle Burrer drei Dimensionen und zeigt sich so, noch vor jedem Begehen, selbst als eine Raumskulptur, was diesmal heißt: Der Raum wird geformt, nicht der Körper, dem das vordergründig bei der Skulptur sonst zukommt. Für die Bildhauerin Sibylle Burrer ist aber der Raum das eigentlich zu erobernde Reich. Alles Körperliche greift in den Raum aus oder in ihn ein, indem es sich ihm öffnet. Das Element Raum erweist sich beim Begehen des Netzes allerdings sosehr als Vorausbedingung, daß der oder die Gehende ihn vergißt. Gleichwohl ist er da und der Bewegung so nötig wie die Luft zum Atmen.
Wer durch das Netz hindurchgegangen ist, nimmt sich vielleicht hinterher Zeit zum reflektierenden Betrachten, so wie künstlerische Arbeiten das bisweilen anbieten. Als erstes wäre das Augenmerk zu richten auf die an sich schon prächtige Zimmermannsarbeit in der Konstruktion des Dachstuhls, in den das Netz eingehängt ist. Dessen verläßliches Skelett bietet das Gerüst für alles Übrige. Aus festen Stützen und leichteren Latten sicher gefügt und einander verbunden ist der Dachstuhl der Machart des Netzes nicht unähnlich. Auch das Netz verbindet stärkere und feinere Seile in einem System von im Rechteck angeordneten Verbindungen. Leicht und geschmeidig schwingt sich das Netz bis hinauf unter den Dachfirst und über einer geradezu festlichen Portalfolge der tragenden Stützen hin. Der Blick, der beides gemeinsam wahrnimmt, mag darin bereits erkennen, worum es hier geht: Um stabiles Tragen und beweglichen, niemals starren Ausgleich der Kräfte.
Das wäre ein physikalisches Geschehen, das selbstverständlich nicht ausgeklammert werden kann. Aber es kommt hier auch anderes ins Spiel, der Mensch. Unterwegs im Netz ist er gefordert mit allen seinen Möglichkeiten der Wahrnehmung, des Körpergefühls und des tatsächlichen Begreifens. Dabei weiß er und nutzt die tragenden und lastenden Kräfte im Raum, Festigkeit und Nachgiebigkeit des Netzes, verläßliche Verbindungen im sich ausgleichenden Spiel des Netzes. Wie die Dachbodenkonstruktion mit ihren Verstrebungen als ein Strebewerk gelten kann, gibt das Netz als System eine Vernetzung, ein Netzwerk. Mit beiden Worten klingen Kontexte an, die weitere Dimensionen öffnen. Das Netzwerk des Internet drängt sich heute vielleicht zuerst auf; aber es gibt auch andere Netzwerke, Denkwelten des sozialen Netzwerks unter Menschen etwa. An jeden einzelnen Menschen selbst ist dabei zu denken, der seinen Lebensweg gehend vieles in sich verbindet wie ein Knoten im Netz und der mit anderen gemeinsam eine große tragfähige Gemeinschaft bilden kann, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum.
Auch dieser Aspekt ist in der Arbeit von Sibylle Burrer gegenwärtig, wenn auch nicht gleich offensichtlich. Er ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des Netzes. Es besteht aus Seilen verschiedener Belastbarkeit, die Bergsteiger für ihren Halt und ihre Absicherung benutzen. Und es besteht aus Hunderten von Knoten. Diese wurden geknüpft in Zusammenarbeit mit der „Lebenshilfe Pforzheim/Altgefäll und dort innerhalb des Arbeitstrainingsbereichs der Holzwerkstatt. Auch die „Lebenshilfe“ ist ein Netz, verankert in der öffentlichen Gemeinschaft, die dieses mitträgt, vielleicht so wie die Holzkonstruktion des Dachstuhls das luftige Netz. Daß auch das so leicht und instabil wirkende Netz fähig zu halten ist, werden alle erleben, die durch das Netz wandern – eigene Schwächen den Knoten und Seilen anvertrauend, die von ebenfalls, aber auf andere Weise Schwachen geknüpft worden sind.
Zurück aus der Geschichte in die Gegenwart. Anders als das virtuelle Netz des world wide web bietet das reale Netz von Sibylle Burrer einen Ort der Wirklichkeit, der tatsächlichen Erfahrung mit sich selbst in einem ganz und gar nicht virtuellen Raum. Im Hier und jetzt augenblicklichen Geschehens, im Miteinander der ebenfalls im Netz befindlichen Personen entsteht Wirklichkeit des Handelns in gegenseitiger Achtsamkeit. Man kann als Betrachter diesem Leben zuschauen, vieles beobachten und Schlußfolgerungen daraus ziehen. Dabei hält sich der Abstand, der zur Betrachtung nötig ist. Es ist ein entscheidender Schritt, sich vertrauend auf die Tragkraft des Netzes und das Vermögen des eigenen Körpers, aus diesem Abstand heraus zu wagen und sich hineinzubegeben in die unberechenbare Unmittelbarkeit, die der Aufenthalt im Netz verspricht. Es ist ein Wagnis aus der gesicherten Position herauszutreten in ein Erleben, das von Augenblick zu Augenblick aufs neue den ganzen Menschen erfaßt. Dazu wünsche ich guten Mut.