Realität - Vision
6.5. – 3.6.2001
Dr. Friedl Brunckhorst
1. Realität
In den Dachstuhl des spätmittelalterlichen Pulverturms von Vaihingen/Enz ist als begehbare Plastik eine Netzkonstruktion eingehängt. Sie windet sich über vier Ebenen spiralförmig bis unter die Dachspitze.
Die Installation wurde eigens für den historischen Dachraum des Pulverturms entwickelt, ist also kein beliebiges Ausstellungsstück. Sie ist ein begehbares Kunstwerk, das erst mit dem Erleben des Besuchers vollständig wird. Von der obersten Turmebene steigt der Besucher in die Hängeplastik und damit in den histotischen Dachstuhl ein. Über drei weitere Ebenen gelangt er vom sog. `Schacht` bis zur `Zelle`, einem quadratischen Netzraum im Zentrum des Dachkegels. An diesem Endpunkt und gleichzeitig lichtesten Bereich mit freiem Blick nach oben und unten, muß der Besucher umkehren.
Was hat es mit dieser Hängeplastik auf sich, die raumdurchlässig und labil im Dachraum an den Balkenlagen hängt?
Sibylle Burrer versteht sie als eine Raumerkundung, in der man aus der Labilität des Netzes, in dem der Besucher hin und her schwingt, die Stabilität und Statik des Dachstuhles erleben kann. "Ein denkmalgeschütztes Gebäude soll einmal auf andere Weise begangen und damit neu und lustvoll erlebt werden."
Der historische Dachstuhl, selbst ein handwerkliches Meisterstück, ist ein statisches Gefüge, die Hängeplastik dagegen in sich beweglich und labil, offen für die vielfälitigsten Raumeindrücke und – durchblicke. Die Künstlerin hat – wie meist auch in ihren Plastiken – zwei konträre Dinge miteinander konfrontiert: das festgefügte, schwere und tragende Holz und das leichte und schwingende Seil.
Begeht man die Installation, so schlägt sich eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Gemäuer und Dachstuhl des Pulverturmes gehören der Vergangenheit an, Seilplastik sowie Besucher der Gegenwart und das, was der Besucher auf seinem labilen Weg erlebt und aus seinem Erleben Neues in sich erstellen läßt, ist das Zukünftige. Das Festgefügte der Holzkonstruktion ist Sinnbild für das Gewordene , Erstarrte und Unveränderliche der Vergangenheit, während die Gegenwart – im Sinnbild des Seiles – noch im Fluß und beweglich ist.
Der Besucher, der allein im Netz hochsteigt, fragt sich bei schwankendem Grund und Wänden, was ihn hält, er fragt nach der Tragkonstruktion, dem Boden, der und sonst wie selbstverständlich trägt.
Der Aufstieg in die Dachkegelspitze ist auch Mühe und Arbeit, man ringt, um voranzukommen, man ist `verstrickt` und hängt buchstäblich in den Seilen, gerät ins Schwanken und kämpft, um sich immer wieder ins Lot zu bringen. Aufstieg und Abstieg können so als Sinnbild des Lebensweges erfahren werden, auf dem jeder seinen eigenen, individuellen Weg und seine eigene Geschwindigkeit zu finden hat – unter Einbindung aller, nicht nur der physischen Kräfte: Denken, Fühlen und Wollen sind zu koordinieren. Hier ist kein Schritt selbstverständlich. Mit neuer Bewußtheit und innerlich geordnet erlebt man festen Boden unter den Füßen, man hat ein neues Gleichgewicht gewonnen.
2. Vision
Die Keimzelle zur `Raumerkundung` im Vaihinger Pulverturm hat Sibylle Burrer mit ihrer Diplom-Arbeit 1991 gelegt. Sie studierte 1983-1991 Architektur in Stuttgart und schloß ihr Studium mit der Arbeit `Dialog einer Holzkonstruktion und Seilkonstruktion`für den Fruchtkasten von Maulbronn, ihrer Heimatstadt, ab. Dessen imposanter, spätmittelalterlicher Dachstuhl inspirierte sie zu einer Netz-Installation über seine fünf Böden- vorerst im Modell.
Hier werden horizontale Laufgänge aus Seilnetz in die Dachkonstruktion eingehängt, wobei drei verschiedene Seilstellungen eine rhythmisierte Folge von räumlich gekrümmten Netzflächen schaffen (im Modell durch Draht ersetzt). Über Leitern steigen die Besucher von einer Ebene in die nächste und erhalten, ähnlich wie im Pulverturm, nur in mächtigeren Dimensionen, aus den unterschiedlichen Blickwinkeln immer neue,sonst nie mögliche Eindrücke vom Dachwerk des 16. Jahrhunderts. da hier – anders als im Pulverturm – mehrere Personen gleichzeitig die Netzkonstruktion betreten können, wird nicht nur die eigene Bewegung, sondern auch die der anderen auf das Netz übertragen. Der einzelne spürt so deutlich die Einwirkung der `Weggefährten` auf sein Umfeld und muß damit umgehen, es gegebenenfalls auszugleichen suchen. Er ist als im doppelten Sinn vernetzt.
Eine Realisierung dieser Seilnetzkonstruktion würde dem Publikum zudem, viel eindrücklicher als es jede Beschreibung oder die reine Betrachtung vermag, die gewaltige Ingenieurleistung des 16. Jahrhunderts erlebbar machen. Erst in der Erfahrung und im bewußten Umgang der Menschen mit historischen Bauten kann die Architektur vergangener Zeiten für die heutige Zeit fruchtbar werden.
Die Aufhängung dieser Netzinstallation, die im übrigen in der Materialwahl sensibel auf die historische Bausubstanz abgestimmt sind, ist auch als eigenständiger, lebendiger Beitrag zu einer Denkmalpflege zu sehen, die das Vergangene nicht nur bewahrt und abschirmt, sondern über das Erleben historischer Räume die Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft schlägt.