Den Raum begehen
15.5. – 28.6.2009
Dr. Ulrike Rein, Pforzheim
Interaktion
im Glockenturm des Münsters Schwarzach
Zur Installation eines Netzes im Glockenturm des Münsters Schwarzach
Sibylle Burrer ist Bildhauerin. Daher hat sie eine besondere Beziehung zum Körper. Begonnen hat sie ihre berufliche Ausbildung mit dem Studium der Architektur. Dabei hat sie einen ausgeprägten Sinn für den Raum entwickelt. Beides, Raum und Körper sind auf einzigartige Weise in dem romanischen Bau des Münsters Schwarzach erfahrbar. Bereits der Grundriß der Kirche zeigt die klar von einander geschiedenen und doch zu einem ganzen Baukörper gefügten Raumteile: das Langhaus mit den begleitenden Seitenschiffen, die ausgeschiedene Vierung, die Querarme und schließlich den eigenen Raum für den Chor mit der Apsis. Die stämmigen Säulen mit ihren mächtigen Kapitellen und Kämpfern bestimmen, als skulpturale Gebilde, den Charakter des Raumes wesentlich mit. Es kann als besonderer Glücksfall gelten, daß eine Künstlerin mit den Voraussetzungen, die Sibylle Burrer mitbringt, diesen Raum durch ihre Arbeit erschließt und ihn bis an seine äußersten Grenzen erprobt.
Im Glockenturm hat Sibylle Burrer ein Netz eingehängt, das man begehen kann. Auf dem Weg dahin durchmißt man den Kirchenraum nicht nur mit dem Auge als Betrachter. Man muß diesen Weg tatsächlich mit dem eigenen Körper zurücklegen. Zuerst steigt man empor:
Über die Wendeltreppe zur Orgelempore und von dort steil nach oben über eine schmale Treppe, die an der Wand angebracht ist. Der Blick zurück fällt dabei auf immer tiefer liegenden Grund, das Volumen des Raums weitet sich, der Körper, der man selbst ist, versichert sich gern eines festen Halts.
Eine Dachluke wird durchstiegen und man befindet sich in einer anderen Welt. Es ist eng. Statt der Weite des unten liegenden Raumes rückt eine dichte Abfolge hölzerner Stützen, die das Satteldach tragen, ganz nah. Alle sind auf die gleiche Weise konstruiert. Sie sind als Hölzer materiell greifbar, und da sie sämtlich nach gleicher Maßgabe gebildet sind, reihen sie sich zu einer langen, rhythmisch gegliederten Straße. Sie führt über das ganze Langhaus hin bis zum Glockenturm unter der Vierung.
Dort hebt sich der Blick zu den Glocken. Unter ihnen hängt das Netz, begehbar für jeweils bis zu vier Personen. Es ist ein Raumkörper ganz eigener Art, körperhaft durch die Schnüre, die es ausmachen, ein durchlässiges, raumhaltiges Gefäß aus Seilen. Bergsteiger verwenden solche Seile zum Klettern. Eine Pfadfindergruppe des Ortes hat sie nach den Angaben der Künstlerin miteinander verknüpft. Das Netz ist gut an den tragenden Stützen des Glockenstuhls vertäut und gerät mit ihm beim Läuten der Glocken ins Schwingen, getragen wie der Klang vom Luftvolumen des Raumes.
Vor dem ersten Schritt ins Netz soll bedacht sein, daß Sibylle Burrer bei der materiellen Herstellung des Netzes auch ein soziales Netz aktiviert und vielleicht damit neue Netze geschaffen hat. Das Netz ist nicht die Leistung einer einzelnen Person, sondern viele haben daran mitgearbeitet, die Gruppe junger Menschen, die zur politischen Gemeinde des Ortes gehören, die Kirchengemeinde, die ihren Raum in dieser Art zu begehen genehmigt, der prüfende Statiker, die Menschen, die bei der Suche nach diesem Raum geholfen haben. Mit anderen Worten: ein ganzes Netz unterschiedlich dichter Beziehungen war nötig, dieses Netz zu knüpfen, das seinerseits zurückweist auf die tragenden Verbindungen in der Gemeinschaft von Menschen unter einander.
Zunächst aber geht es um den Raum, das Netz darin und um ihn herum. Im Gespräch sagt die Künstlerin: „Der Raum trägt“. Aber hier ist es erst einmal das Netz, das den zu tragen verspricht, der sich hineinbegibt. Es ist kein passives Tragen oder gar Getragenwerden. Will sagen: Das Netz und auch der Mensch darin reagiert auf Kraft und Gegenkraft, auf Gewichte, auf Entlastung und erneute Belastung. Das Gleichgewicht kommt ins Spiel, das körperliche Vermögen, immer wieder neu zur Balance zu finden. Der Körper hat zu arbeiten, wenn er sich im Netzraum halten will.
Interaktion des Körpers mit dem Raum ist der Fachausdruck für dieses Geschehen. Im Zeitalter des virtuellen Netzes, das den Globus umspannt als world wide web und der damit erschließbaren virtuellen Räume, die der Mensch vor dem PC sitzend durcheilt, oft genug seiner selbst vergessend und allenfalls konfrontiert mit den Angeboten immer weiter führender Links, ist dieses reale Netz ein Ort des tatsächlichen Hier und Jetzt, eines augenblicklichen Geschehens unter Umständen auch im Miteinander mit ebenfalls im Netz befindlichen Personen. Es entsteht Wirklichkeit des Handelns in gegenseitiger Achtsamkeit, mithin ein Symbol menschlichen Zusammenlebens.
Man kann als Betrachter diesem Leben zuschauen, vieles beobachten und Schlußfolgerungen daraus ziehen. Dabei hält sich der Abstand, der zur Betrachtung nötig ist. Es ist ein entscheidender Schritt, sich, vertrauend auf die Tragkraft des Netzes und das Vermögen des eigenen Körpers, aus diesem Abstand heraus zu wagen und sich hineinzubegeben in die unberechenbare Unmittelbarkeit, die der Aufenthalt im Netz verspricht. Es ist ein Wagnis, aus der gesicherten Position herauszutreten in ein Erleben, das von Augenblick zu Augenblick aufs neue den ganzen Menschen erfaßt. Hilde Domin hat ihrer Gedichtsammlung „Nur eine Rose als Stütze“ ein Motto vorangestellt. Es lautet: „Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug.“
Dr. Ulrike Rein, Pforzheim